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STICHWORT BAYER 03/2014
Einsatz von Giftgas im 1. Weltkrieg

Die Chemie im Ersten Weltkrieg

BAYER an vorderster Front

Für BAYER begann der Erste Weltkrieg nicht erst am 1. August 1914. Der Konzern war bereits an den Vorbereitungen beteiligt und avancierte nicht nur zum wichtigsten Lieferanten chemischer Waffen, sondern fischte auch im „Menschenbassin Belgien“ nach ZwangsarbeiterInnen und formulierte die Kriegsziele mit. Von all dem will der Leverkusener Multi heute nichts mehr wissen.

Von Jan Pehrke

Mit seinem Geschichtsbild befindet sich der BAYER-Konzern ganz auf der Höhe der Zeit, denn mit Schlafwandlern kennt er sich aus. Schon lange vor dem Erscheinen des geschichtsvergessenen Bestsellers von Christopher Clark über den Ersten Weltkrieg machte der Pharma-Riese Somnambulismus 1914 auch bei der Chemie-Industrie aus. „Sie wurde in einen Krieg hineingerissen, auf den sie nicht vorbereitet war und den sie nicht vorhergesehen hatte“, konstatiert die 1988 erschienene Firmen-Chronik „Meilensteine“. Sie zitiert eine Äußerung des damaligen Generaldirektors Carl Duisberg, wonach BAYER & Co. im allgemeinen Taumel der Kriegsbegeisterung „von schweren Depressionen befallen, kopfschüttelnd beiseite gestanden“ hätten, weil sie „eine schwere Beeinträchtigung unserer geschäftlichen Tätigkeit“ fürchteten. Standhaft lehnte Duisberg die Produktion des kriegswichtigen synthetischen Kautschuks ab, behauptet das Werk. Auch Sprengstoff wollte die Aktien-Gesellschaft laut „Meilensteine“ zunächst nicht herstellen; nur widerwillig fügte sie sich schließlich und rührte die explosiven Gemische doch an. Zwar entwickelte sich das Unternehmen bald zum größten deutschen Produzenten, aber immer nur zwangsverpflichtet: „Auf Verlangen der militärischen Führung wurden auch die Granaten bei BAYER gefüllt.“ Und ebenfalls nur auf Verlangen machte sich angeblich eine unter anderem mit Duisberg besetzte Kommission auf die Suche nach tödlichen Chemie-Waffen. Das mögen dann selbst die Autoren nicht mehr tolerieren. „Es ist aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar, dass die Kommission nach besten Kräften versuchte, den Auftrag zu erfüllen“, halten sie fest. Eine aktive Rolle, die über eine solche Dienstbeflissenheit hinausgeht, spielte der Leverkusener Multi nach dem Dafürhalten der Konzerngeschichtsschreiber jedoch nie.

Dabei wäre der Erste Weltkrieg ohne eine solche aktive Rolle der Unternehmen gar nicht führbar gewesen. Was Thurman Arnolds von der Anti-Trust-Division des US-amerikanischen Justizministeriums über den Zweiten Weltkrieg sagte: „Dies ist ein Kampf zwischen den Armeen der Industrie, nicht zwischen den Armeen der Militärs“ (1), das hätte er auch schon über 1914/18 sagen können. Für einen Krieg brauchen die Kontrahenten nämlich ausreichend Munition, Transportmittel, Rohstoffe und Lebensmittel, und all das bekommen sie ohne eine leistungsfähige Industrie nicht. Deshalb nahmen die Konzerne schon frühzeitig an den Vorbereitungen zum Waffengang teil. Da das Deutsche Reich sich bereits vor 1914 von wichtigen Rohstoff-Lieferungen abgeschnitten fühlte und im Kriegsfall mit einer noch einmal verschärften Versorgungssituation rechnete, kam BAYER & Co. vor allem die Aufgabe zu, auf chemischem Weg Ersatzstoffe zu produzieren.

Im Mittelpunkt der Anstrengungen stand dabei der Salpeter, der gleich in zweifacher Hinsicht kriegswichtig ist. Nicht nur die Lebensmittel-Produktion hängt von der Chemikalie ab, weil sie ein wichtiger Grundstoff der Düngemittel-Fertigung ist, sondern auch die Sprengstoff-Herstellung. Darum machten sich die Chemie-Multis bereits ab 1904 im Zuge der Marokko-Krise, als die imperialen Auseinandersetzungen zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich um das Land hochkochten, an Versuche, die Substanz auf synthetischem Wege zu gewinnen. So errichtete BAYER 1906 eine erste Versuchsanlage. Durchsetzen konnte sich aber schließlich das Haber/Bosch-Verfahren. Carl Bosch war es dann schließlich auch, welcher der Obersten Heeresleitung in Tateinheit mit Carl Duisberg zu Beginn des Krieges zusicherte, diesen Stoff immer in ausreichenden Mengen zur Verfügung zu stellen; als „Salpeter-Versprechen“ ging das in die Geschichtsbücher ein.

Bei einer anderen strategisch wichtigen Substanz, dem vor allem bei der Reifen-Produktion unabkömmlichen Kautschuk, erreichten hingegen die Farben-Fabriken BAYER (FFB) eine wichtige Wegmarke. Es gelang ihnen 1909 erstmals, eine synthetische Variante aus Steinkohle-Derivaten zu fertigen. Duisberg erkannte die Relevanz und ließ 1912 den Mobilmachungsstatus der Leitenden Angestellten erfassen, um im Kriegsfall eine reibungslose Produktion gewährleisten zu können. Letztendlich vermochte der Kunststoff sich jedoch nicht gegen die natürliche Konkurrenz durchsetzen, denn weil die Anzahl der Kautschuk-Plantagen zunahm, fielen die Weltmarkt-Preise drastisch. Auch technisch war das Produkt noch nicht ausgereift. Nicht einmal der Werbe-Coup, den kaiserlichen Automobil-Park mit Kunstgummi-Reifen made in Leverkusen auszustatten, brachte das Geschäft in Schwung, so dass BAYER die Herstellung aufgab. Und als das Innenamt sich im zweiten Kriegsmonat dann wegen einer Wiederaufnahme der Fabrikation an den Konzern wandte, sah dieser sich außer Stande, die Hebel so schnell wieder umzulegen.

Aber auch administrativ war der Chemie-Riese in die militärischen Planungen einbezogen. So saß Carl Duisberg in der „Kommission zur Prüfung der Rüstungslieferungen“, die im November 1913 ihre Arbeit aufnahm. Große Aktivitäten entfaltete das Gremium allerdings nicht. Der BAYER-Generaldirektor glaubte nämlich tatsächlich nicht an einen Krieg. Besser gesagt: Er wollte nicht an einen Krieg glauben. Der Leverkusener Multi war für einen solchen nämlich nicht gerüstet. Die Farben-Fabriken hatten im Gegensatz zur Konkurrenz kaum Rohstoff-Vorräte angelegt und auch keine Maßnahmen dafür getroffen, im Ernstfall die Export-Abhängigkeit kompensieren zu können. Vor allem aber fehlten Produkte für den Militär-Markt. „Nach dem Kautschuk-Debakel hatten die FFB kaum noch Kriegsoptionen“, stellt der Historiker Timo Baumann in seiner Doktorarbeit „Giftgas und Salpeter“ fest (2). Als den unter den großen Chemie-Unternehmen am schlechtesten auf den Krieg vorbereiteten Konzern bezeichnet der Geschichtswissenschaftler BAYER. Allein aus diesem Grund fehlte dem Herrn Generaldirektor der Tatendrang. „Duisberg blieb nichts anderes übrig, als zu hoffen, dass die Wirtschaft (...) so wichtig genommen wurde, dass ein unablässiges Zurückweisen von Krieg dessen Wahrscheinlichkeit senkte“, urteilt Baumann (3).

Deshalb war er dann auch „von schweren Depressionen befallen“, als der Krieg im August 1914 ausbrach. Aber es sollte schnell Besserung eintreten, denn der Konzern kam schließlich doch noch zu seiner „Kriegsoption“: Chemie-Waffen. Schon in den ersten Wochen der Kämpfe erschienen der Armee-Führung die verwendeten Waffen nämlich nicht durchschlagskräftig genug. Die Oberste Heeresleitung prüfte gemeinsam mit dem Chemiker Walther Nernst Möglichkeiten zur Erhöhung der Geschoß-Wirksamkeit. Und da Duisberg während seiner Zeit in der Rüstungskommission gute Beziehungen zu den Militärs aufgebaut hatte und Nernst überdies persönlich kannte, wandten diese sich bei der praktischen Umsetzung an ihn. Der BAYER-Generaldirektor erkannte sogleich die Chance, die sich ihm bot, und drückte aufs Tempo. „Ich bin seit Ende Oktober 1914 zusammen mit Nernst, der (...) der Obersten Heeresleitung zugeteilt ist, auf dem Wahner Schießplatz tätig gewesen, chemische Reizgeschosse zu machen“, schrieb er in einem Brief (4). Schon bald danach konnte der Konzern liefern: Mit dem Reizstoff Dianisidin hatte BAYER die erste chemische Waffe für die deutschen Truppen entwickelt.

Dabei handelte es sich noch nicht um ein Gift. Die Substanz wirkte „nur“ kurzzeitig auf die Schleimhäute ein. Die Armee wollte den Feind mit ihrer Hilfe überraschen und dann sofort unter Beschuss nehmen, um ihn aus gehaltenen Häusern, von Gehöften oder engeren Ortschaften zu vertreiben. Aber bei solchen begrenzten Wirkungen blieb es nicht. „Es ist uns jedoch auch die Frage vorgelegt worden, wie man es aufgrund unserer jetzt gemachten Erfahrungen anstellen müsste, wenn man eine vollkommene Vergiftung des Gegners auf chemischen Wege durchführen wollte“, berichtete Duisberg als führender Industrieller der „Beobachtungs- und Prüfungskommission für Sprengungs- und Schießversuche“ – und hatte auch bald eine Antwort parat: Blausäure (5).

Die Büchse der Pandora war also geöffnet, zumal sich Dianisidin an der Front nicht bewährte. Zum ersten Mal bei Neuve-Chapelle in der Nähe von Ypern der Sprengmunition beigemischt, bemerkten die französischen Soldaten die chemische Wirkung der 3.000 verfeuerten Granaten gar nicht. „Versuche mit neuen Geschossen“ beschäftigten Duisberg im Herbst 1914 nach eigenem Bekunden täglich, und das „schon seit Wochen“. Besonders der sich abzeichnende Stellungskrieg, in dem die Parteien sich aneinander festbissen, ohne dass eine Seite größere Geländegewinne erzielen konnte, trieb die Forschung an. Um die Patt-Situation zu beenden, galt es nämlich, „die große, schwierige Frage der Verpestung der Schützengräben mit chemischen Substanzen der Lösung näherzubringen“, wie der BAYER-Generaldirektor Krupp von Bohlen mitteilte (6). Die Entwicklung solcher Kampfgase gelang dem Leverkusener Multi auch, und nicht nur das. „So habe ich unsere Fabrik zu Kriegslieferungen umorganisiert, mache Sprengstoffe aller Art, fülle Granaten und bin außerdem persönlich mit Nernst zusammen mit Versuchen beschäftigt, Spezialgeschosse anzufertigen“, vermeldete Carl Duisberg stolz (7). „Das gemeinste Zeug“8 war dabei, und sogar zur Namensgebung durfte der Konzern manchmal beitragen. „Lost“ hieß ein Senfgas zu Ehren des BAYER-Forschers Wilhelm Lommel und seines Kooperationspartners Wilhelm Steinkopf vom „Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie“.

Nur die Chlorgas-Wolke, die am 22. April 1915 in Ypern erstmals zum Einsatz kam und 800 bis 1.400 Menschenleben forderte, stammte nicht aus Leverkusen. Fritz Haber und die Wissenschaftler vom Kaiser-Wilhelm-Institut haben diese Waffe entwickelt, die zum Synonym für die Grausamkeit des Chemie-Krieges wurde. Sie durchlief ihre Testphase zwar in Köln-Wahn, und Duisburg versuchte auch, auf ihre Fertigung Einfluss zu nehmen, aber letztendlich betrachtete er das Chlor-Gebräu als Konkurrenz-Produkt. Zynisch und hintersinnig schrieb er von den „‚chlorreichen Siegen’ von Ypern, denen aber leider weitere (...) nicht gefolgt sind“, um so Reklame für die Offensiv-Waffen aus seinem eigenen Chemiebaukasten zu machen (9). Und tatsächlich konnte die Wolke die BAYER-Hervorbringungen nicht vom Markt drängen. Die erprobte Leverkusener „Science for Death“ erwies sich letztendlich als überlegen. „Die unter den großen Chemie-Unternehmen auf den Krieg am schlechtesten vorbereiteten Farben-Fabriken BAYER setzten am meisten Forschungskapazität für neue chemische Kampfstoffe ein“, schreibt Timo Baumann (10) und hält fest: „Den von BAYER nun im Winter 1914/15 gewonnenen Vorsprung in der Entwicklung neuer chemischer Kampfstoffe konnten die Farbwerke HOECHST bis Kriegsende nicht mehr aufholen. (11)“

„Pioniertaten“ gelangen dem Konzern aber auch noch auf anderen Kriegsfeldern. So nutzte Carl Duisberg seine hervorgehobene Stellung bei der Umsetzung des Hindenburg-Programmes der Obersten Heeresleitung, das die Kriegswirtschaft 1916 noch einmal ankurbeln sollte, um zu versuchen, ein ZwangsarbeiterInnen-System zu etablieren. Was die „Meilensteine“ beschönigend als Anwerbung von ArbeiterInnen aus den besetzten Gebieten beschreiben, nahm seinen Anfang laut Duisberg folgendermaßen12: „Es war so: Als wir bei der Übernahme des großen Hindenburg-Programmes Mangel an Arbeitern aller Art hatten (...), erfuhr ich zufällig bei einem Vortrag, den ich bei der 4. Armee hielt, von dem Chef des Stabes, dass er mit Leichtigkeit aus dem ihm unterstellten Teile Flanderns 60.000 bis 80.000 Arbeiter abgeben könne.“ Fortan machte er Druck. „Öffnen Sie das große Menschenbassin Belgien“, appellierte er an die Heeresführung und erhielt dann auch den Zugriff. Aber obwohl die Planungen zügig vorangingen und schon im erschreckenden Ausmaß das ZwangsarbeiterInnen-Regime der Nazis vorwegnahmen – unter anderem sprachen Duisberg & Co. bereits von „Konzentrationslagern“ – scheiterte die erfolgreiche Umsetzung schließlich an organisatorischen Problemen.

Stand Duisberg dem Krieg zu Beginn skeptisch gegenüber und verfolgte zunächst auch mit BAYERs Chemiewaffen-Arsenal den Zweck, den Waffengang zu einem möglichst frühen Ende zu führen, um das Exportgeschäft nicht weiter zu gefährden, so trat er später für die bedingungslose Ausweitung ein. Er machte sich für den unbeschränkten U-Boot-Krieg stark und forderte die völkerrechtswidrige Bombardierung Englands. Zudem setzte er sich für die Annexion von Belgien und Nordfrankreich ein und wollte Gebiete in Polen und Russland für neuen „deutschen Lebensraum“ in Beschlag nehmen. Die Anbahnung von Friedensverhandlungen durch den Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg trachtete der Generaldirektor deshalb zu verhindern. Gemeinsam mit der Militär-Kaste verlangte er erfolgreich dessen Absetzung und mehr Einfluss für die Armee-Führung: „Wir sind ganz auf Krieg und Gewalt eingestellt (...) Denn jetzt ist ‚Politik’ gleich Krieg und Krieg gleich ‚Politik’“ (14).

Es solle „die Chemie die ihr in der modernen Kriegsführung zukommende Rolle spielen“, hatte Duisberg einmal dekretiert (15). Dank seiner Hilfe hat sie das dann auch tatsächlich getan. Mit schrecklichen Folgen. BAYER will von all dem heute nichts mehr wissen. Auf der letzten Hauptversammlung bestritt der Pharma-Riese die Vorwürfe der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN, sich diesem Thema nicht zu stellen. Der Vorstandsvorsitzende Marijn Dekkers scheute Axel Köhler-Schnura gegenüber nicht einmal vor Geschichtsrevisionismus zurück. „Auch die wissenschaftlichen Publikationen kommen zu anderen Schlüssen als den, die Sie hier vorgetragen haben. Die historischen Verdienste Carl Duisbergs sind weithin anerkannt. Er ließ Wohnungen für die Arbeiter bauen, verringerte deren wöchentliche Arbeitszeit, er führte soziale Versicherungssysteme ein und setzte sich für den Umweltschutz ein, lange bevor es gesetzliche Regelungen dazu gab.“ Und ebenso geschichtsvergessen präsentierte sich der Global Player auch 2013, im Jahr seines 150. Geburtstages: Über sein Wirken im Ersten Weltkrieg viel ebenso wenig ein Wort wie über seine Unterstützung des Nazi-Regimes.

Anmerkungen
1 Bernd Greiner, Die Morgenthau-Legende; Hamburg 1995; S. 34
2 Timo Baumann, Giftgas und Salpeter; Düsseldorf 2011; S. 168
3 ebenda, S. 168
4 ebenda, S. 259, Anm. 233
5 ebenda, S. 259
6 ebenda, S. 292
7 ebenda, S. 321
8 ebenda, S. 342
9 ebenda, S. 389
10 ebenda, S. 735
11 ebenda, S. 736
12 Jens Thiel, „Menschenbassin Belgien“; Essen 2007; S. 110
13 ebenda, S. 111
14 Otto Köhler, ... und heute die ganze Welt; S. 119
15 Baumann, S. 334