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STICHWORT BAYER 02/2009

Störfall im BAYER-Werk Institute

„…hätte Bhopal in den Schatten gestellt“

Seit Jahren kritisiert die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN die Sicherheitslage im US-Werk Institute, der einstigen „Schwester-Fabrik“ von Bhopal. In Institute lagern große Mengen der hochgiftigen Chemikalie MIC, die in Bhopal Tausende Anwohner tötete. Nun wurde im US-Kongress der jüngste schwere Störfall in dem Werk untersucht - mit erschreckenden Ergebnissen: Sicherheits-Systeme waren deaktiviert, die Werksleitung verbreitete wochenlang Falschaussagen, eine ganze Region schrammte knapp an einer Katastrophe vorbei.

von Philipp Mimkes

28. August 2008: Ein fünfzig Meter hoher Feuerball steigt über der Pestizidfabrik in Institute im US-Bundesstaat West Virginia auf. Augenzeugen sprechen von „Schockwellen wie bei einem Erdbeben“, die Erschütterungen sind in einem Umkreis von mehr als zehn Meilen zu spüren. Tausende Anwohner dürfen über Stunden ihre Häuser nicht verlassen. Sicherheitskräfte werden aus Angst vor austretenden Chemikalien abgezogen. Eine nahe gelegene Autobahn wird geschlossen. Ein Arbeiter stirbt, ein zweiter wird später seinen schweren Verbrennungen erliegen.
Im April 2008 hatten Vertreter der COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN (CBG) in der Hauptversammlung des Konzerns vor den beträchtlichen Risiken gewarnt. In dem Werk, das seit 2001 zu BAYER gehört, kommen große Mengen des einstigen Kampfgases Phosgen und der in Bhopal ausgetretenen Chemikalie Methyl Isocyanat (MIC) zum Einsatz. An keinem anderen Ort in den USA lagern derart große Mengen MIC - mindestens das doppelte der in Bhopal ausgetretenen Menge -, auch in der deutschen Pestizidproduktion kommt BAYER ohne solche Giftgas-Tanks aus.
Dennoch wies BAYER-Chef Werner Wenning jeglichen Handlungsbedarf zurück: die Anlagen entsprächen den „neuesten Sicherheitsstandards“ und hätten eine „ausgezeichnete Störfallbilanz“, die Behörden hätten die hohe Sicherheit „ausdrücklich gelobt“. Die Forderung der CBG nach einem Abbau der Tanks und einer Umstellung auf eine just in time-Produktion wurde als unqualifiziert bezeichnet. Dabei war ein worst-case-Szenario zu dem Ergebnis gekommen, dass im Falle eines GAUs in einem Umkreis von bis zu fünfzehn Kilometern tödliche Vergiftungen auftreten könnten. Direkt neben den Chemieanlagen in Institute befinden sich ein Wohnviertel und die hauptsächlich von Schwarzen besuchte West Virginia State University.
Auch nach der Explosion vier Monate später wiegelten Sprecher des Konzerns ab. Die Sicherheits-Einrichtungen hätten funktioniert, es seien keine Chemikalien ausgetreten, die großen MIC-Tanks lägen in einem anderen Teil der Fabrik. Erst Wochen später stellte sich heraus, dass sich weniger als 20 Meter vom Explosionsort entfernt ein überirdischer MIC-Zwischenbehälter befindet. Auch die Rettungsarbeiten verliefen keineswegs reibungslos: die Feuerwehr veröffentlichte die aufgezeichneten Telefonate der Unglücksnacht, in denen die Sicherheitskräfte über Stunden hinweg vom Pförtner (!) abgewimmelt worden waren. Kent Carper, Präsident des zuständigen Verwaltungsbezirks Kanawha County, kritisierte, dass die Feuerwehr erst zweieinhalb Stunden nach der Explosion über die Gefährlichkeit der ausgetretenen Chemikalien informiert wurde. Im Falle eines Austritts von MIC oder Phosgen hätte den Anwohnern laut Carper nicht geholfen werden können.
Die US-Arbeitsschutzbehörde OSHA führte eine Untersuchung des Störfalls durch und fand “mangelhafte Sicherheits-Systeme, signifikante Mängel der Notfall-Abläufe und eine fehlerhafte Schulung der Mitarbeiter“. Insgesamt stellte die OSHA 13 „schwere Verstöße“ gegen Sicherheitsbestimmungen fest und verhängte eine Strafe von $143.000.

US-Kongress schaltet sich ein
Daraufhin strengte auch das staatliche Chemical Safety Board eine detaillierte Untersuchung an. Die Ergebnisse wurden Ende April in einem Untersuchungsausschuss im US-Kongress vorgestellt. Schon die Einberufung des Ausschusses durch den einflussreichen Abgeordneten Henry Waxman war ein ungewöhnlicher Vorgang, da Störfälle normalerweise auf der Ebene der Bundesstaaten untersucht werden. Vertreter von BAYER wurden von den Mitgliedern des Repräsentantenhauses ebenso befragt wie die örtliche Bürgerinitiative, die Feuerwehr und der Gouverneur von West Virginia. Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN wurde im Vorfeld mehrfach telefonisch interviewt, um die von BAYER ignorierten Warnungen zu erhellen.
Der Kongress-Bericht kommt zu alarmierenden Ergebnissen. Die Explosion wurde demnach durch unkontrolliert steigenden Druck in einem Rückstandsbehälter verursacht. Wegen eines Konstruktionsfehlers waren Sicherheits-Systeme, die einen solchen Druckanstieg verhindern sollen, vorsätzlich deaktiviert worden. Dies war der Werksleitung bekannt, die Katastrophe hätte daher laut Bericht „leicht verhindert werden können“. Die Aussage von BAYER, wonach keine gefährlichen Stoffe in die Umgebung gelangten, sei „eindeutig falsch“ - tatsächlich traten rund 10.000 Liter Chemikalien aus, deren genaue Zusammensetzung unbekannt ist. Die BAYER-Mitarbeiter waren mangelhaft geschult und wegen extremer Überstunden übermüdet, es fehlten worst case-Szenarien und eindeutige Vorgaben für Notfälle. Die MIC-Detektoren im fraglichen Teil der Anlage waren defekt, auch funktionierte die Video-Überwachung nicht. Es ist daher unklar, welche Stoffe in welcher Menge die Werksgrenze überwanden.
Der schwerwiegendste Teil der Ergebnisse betrifft den MIC-Tank, der sich nur 20m von dem Explosionsort entfernt befindet und der zum Zeitpunkt des Unglücks sieben Tonnen Giftgas enthielt. Wörtlich heißt es: „Die Explosion in dem BAYER-Werk war besonders beunruhigend, weil ein mehrere Tonnen wiegender Rückstandsbehälter 15 Meter durch das Werk flog und praktisch alles auf seinem Weg zerstörte. Hätte dieses Geschoss den MIC-Tank getroffen, hätten die Konsequenzen das Desaster in Bhopal 1984 in den Schatten stellen können.“ Es sei reiner Zufall gewesen, dass der Behälter in eine andere Richtung flog.

Geheimhaltungskampagne
Vertreter von BAYER hatten in der Anhörung zugegeben, dass die Firma Anti-Terrorgesetze dazu mißbrauchen wollte, die öffentliche Diskussion über die Sicherheitslage in Institute abzuwürgen. William Buckner, Präsident von Bayer CropScience, räumte unter Eid ein: „Es gab natürlich geschäftliche Gründe, die unserem Wunsch nach Vertraulichkeit zugrunde lagen. Hiermit sollte negative Publicity vermieden werden. Außerdem wollten wir verhindern, dass öffentlicher Druck entsteht, die Menge des gelagerten MIC zu reduzieren“. Greg Babe, Vorstandsvorsitzender von Bayer USA, ergänzte ungewöhnlich offen: “Wir haben uns hinter Anti-Terrorgesetzgebung versteckt, um Informationen zurückzuhalten.“
Das Unternehmen hatte zuvor Tausende von Dokumente als sicherheitsrelevant eingestuft, um diese der Untersuchung zu entziehen. Anwälte von BAYER hatten sich dabei auf den Maritime Transportation Security Act zum Schutz von Häfen und Wasserwegen berufen, obwohl sich die Fabrik rund 500km vom Meer entfernt befindet. Nach monatelanger Prüfung wurden über 90% der Unterlagen als unbedenklich eingestuft.
Angesichts der Lügen der Werksleitung direkt nach dem Unfall und der Behinderung der Ermittlungen urteilte der US-Kongress: „BAYER beteiligte sich an einer Geheimhaltungskampagne. Die Firma hat den Sicherheitskräften entscheidende Informationen vorenthalten, hat den Ermittlern der Bundesbehörden nur eingeschränkten Zugang zu Informationen gewährt, hat die Arbeit von Medien und Bürgerinitiativen unterminiert und hat die Öffentlichkeit unrichtig und irreführend informiert.“
Von der New York Times und dem Wall Street Journal bis hin zu den großen TV-Anstalten berichteten die überregionalen Medien ausführlich über die Ergebnisse. Im Mittelpunkt standen dabei die Risiken von Anwohnern chemischer Anlagen und die von BAYER betriebene Geheimhaltung. USA Today schrieb in einem Kommentar: „Der Vorgang ist ein warnendes Beispiel dafür, wie leicht es für ein Unternehmen ist, eine Regierungsbehörde praktisch handlungsunfähig zu machen. Wir dürfen es Firmen wie BAYER nicht erlauben, mittels Anti-Terror-Gesetzen von minderwertigen Sicherheitsstandards abzulenken. Die einfache Wahrheit ist, dass das Risiko der Anwohner, durch einen Störfall zu sterben, viel größer ist als die Gefahr von Terroranschlägen“.

Anhörung vor Ort
Eine zweite Anhörung fand ebenfalls Ende April statt, Ort war diesmal die Universität von West Virginia, deren Campus direkt an das Werk grenzt. Mehrere hundert Anwohner nahmen teil. Das Hearing war ursprünglich für Anfang März geplant, war jedoch nach juristischen Drohungen des Unternehmens verschoben worden.
Die COORDINATION GEGEN BAYER-GEFAHREN wurde vom Chemical Safety Board um eine Stellungnahme gebeten, die in der Anhörung verlesen wurde. Zu den befragten Zeugen gehörten neben der Werksleitung, dem Leiter der Rettungskräfte und dem Präsidenten des Chemical Safety Board auch Maya Nye, Vorsitzende der Bürgerinitiative People Concerned about MIC. Die Initiative, die eine MIC-freie Produktion fordert, wurde in den 80er Jahren nach den ersten schweren Störfällen in Institute gegründet. Mye wörtlich: „Wir möchten keine gefährlichen MIC-Tanks, weder in unserer Nachbarschaft noch irgendwo sonst. Wir fordern BAYER auf, die Gefährdung der Anwohner zu beenden, in allen Werken weltweit“ (ein ausführliches Interview mit Maya Nye findet sich in Stichwort BAYER 4/2008).
Bis heute stehen die betroffenen Anlagenteile in Institute still, in anderen Bereichen der Fabrik werden MIC und Phosgen jedoch unverändert eingesetzt. Dass die Konzernleitung gewillt ist, möglichst schnell zum business as usual zurückzukehren, zeigt ein Blick in den 200 Seiten starken Geschäftsbericht 2008: der schwerste Zwischenfall in einem BAYER-Werk seit 1999 wird mit keinem einzigen Wort erwähnt, auch der Tod der beiden Mitarbeiter ist kein Wort des Bedauerns wert. Und in der Hauptversammlung am 12. Mai tönte BAYER-Chef Wenning trotz der Ergebnisse des Untersuchungsausschusses, dass die „Sicherheits-Einrichtungen in Institute funktionierten”, die “MIC-Tanks nicht betroffen waren” und “alle erforderlichen Unterlagen zu Verfügung gestellt wurden”.
Die Vorsitzenden von vier ständigen Ausschüssen im Repräsentantenhaus forderten BAYER unterdessen auf, die Lagerung von MIC drastisch zu reduzieren oder ganz aufzugeben und kündigten entsprechenden Gesetzes-Vorschläge an. Der Gouverneur von West Virginia, eigentlich seit Jahrzehnten ein enger Verbündeter der Chemie-Industrie, schloss sich der Forderung an und verkündete einen Erlass, wonach schwere Störfälle den Behörden künftig innerhalb von 15 Minuten gemeldet werden müssen.